Gemeinde Wilstedt

Homepage der Gemeinde Wilstedt anlässlich der 1150-Jahr-Feier im Jahre 2010


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Wilstedt im Mittelalter

von Martin Schnackenberg

Mehr als 90% der Menschen lebten im Mittelalter auf dem Land und waren in der Landwirtschaft tätig, dieser Wirtschaftszweig bildete die Grundlage des mittelalterlichen Lebens, da er die übrigen Gesellschaftsschichten ernährte und finanzierte. Auch in Wilstedt war das nicht anders, es gab zwar, besonders in größeren Siedlungen, auch einige andere Berufe, die heute noch an ihren Namen zu erkennen sind, z.B. der Schmied oder der Müller, die Mehrheit aber bildeten die Bauern. Und daher ist es sicher von Interesse, sich einmal vorzustellen, wie die Wilstedter Bauern im Mittelalter und bis in die frühe Neuzeit hinein lebten.

Das Leben der mittelalterlichen Bauern war vor allem geprägt durch die Furcht, das Überleben der eigenen Familie nicht sichern zu können, das war die „Grunderfahrung des bäuerlichen Daseins“ (Rösener) in dieser Zeit – und in einem Landstrich mit so schwachen und ertragsarmen Böden, wie es in Wilstedt der Fall ist, ganz besonders. Um eine Vorstellung zu bekommen, muss man sich das mittelalterliche Ertragsniveau einmal ansehen. Berechnungen haben ergeben, dass z.B. eine mittelalterliche Kuh zwischen 500 und 1000 Litern Milch im Jahr gab, heute erbringen Kühe die zehnfache Milchleistung. Sehen wir uns die Getreideerträge an (Getreidebrei war das Hauptnahrungsmittel, auch deshalb, weil vielen „älteren“ Menschen oft die meisten Zähne fehlten): Hier sieht es so aus, dass ein mittelalterlicher Bauer pro ausgesätem Getreidekorn etwa 3 bis 5 Körner erntete. Heute liegt das Verhältnis auf unseren Böden bei Gerste, Weizen und Hafer bei etwa 1 zu 50, bei Roggen sogar 1 zu 100. Wenn man bedenkt, dass von dieser Ernte noch die Abgaben zu leisten waren und das neue Saatgetreide gewonnen werden musste, wird klar, dass meist nur die Selbstversorgung der Bauern gewährleistet war. Und manchmal blieb nicht einmal dafür genug; Hunger und Hungersnöte gehörten zur ständigen Erfahrung der Menschen. In diesem Zusammenhang wird auch deutlich, warum der Wald, der einen Großteil des Landes bedeckte, für den mittelalterlichen Bauern eine wichtige Ernährungsgrundlage lieferte: Dort wurden die Schweine mit Eicheln gemästet, das Laub diente als Einstreu, Bienen der Gewinnung von Honig, dem einzigen Zuckerlieferanten, und das Holz war der wichtigste Baustoff. Die Schweine wurde in der Regel im Dezember geschlachtet, nur durch diese Reduzierung des Bestandes waren die Muttertiere durch den Winter zu bekommen und das Schweinefleisch lieferte mit seinen tierischen Fetten eine wichtige Grundlage in der ansonsten kargen bäuerlichen Mahlzeit. Wenn man dies betrachtet, die hohe Kindersterblichkeit bedenkt, die mangelnde Hygiene und fehlende ärztliche Versorgung, dann wird klar, warum die durchschnittliche Lebenserwartung im Mittelalter sehr gering war (um die 30 Jahre). Es gab aber durchaus auch „alte“ Menschen, die sehr niedrige Lebenserwartung ergibt sich vor allem auch aus der Kindersterblichkeit - vor allem in den ersten Lebensjahren. Eine deutliche Verbesserung der Ernährungslage der Landbevölkerung brachte schon die Verbesserung der Anbaumethoden und Arbeitstechniken, wie z.B. die Einführung der Dreifelderwirtschaft, die Entwicklung besserer Pflüge und des Dreschflegels, die Einführung des Kummets (gepolsterter Zugkragen für Zugtiere, der die Kraft der Tiere weitaus besser nutzbar machte), verstärkte Düngung durch Mist – um nur einige Neuerungen zu nennen. Hinsichtlich der immer wiederkehrenden Hungersnöte brachte aber vor allem die Einführung der Kartoffel ab dem 18. Jahrhundert einen ungeheuren Durchbruch, denn diese vergleichsweise anspruchslose Frucht bringt im Verhältnis zur Anbaufläche einen überdurchschnittlichen Ertrag, auch und gerade in Wilstedt wächst die Kartoffel, wo andere Früchte (z.B. Weizen) aufgrund des schlechten Bodens nicht gedeihen.

Aber noch ein zweiter Punkt beherrschte das Leben auch der Wilstedter Bauern im Mittelalter: Ungleichheit, Unfreiheit und Rechtlosigkeit. Bis auf wenige Ausnahmen war es nämlich so (z.B. in sehr ertragreichen, oft geographisch geschützten Regionen wie in Dithmarschen oder Stedingen), dass die Bauern des Mittelalters in den verschiedenen, heute im Detail kaum noch zu rekonstruierenden Formen der Unfreiheit lebten. Das Land, auf welchem sie lebten, gehörte einem Grundherren, das konnte ein Adliger sein, es konnte aber auch die Kirche bzw. ein Kloster und in diesem der jeweilige Abt sein. Dieser Grundherr hatte oft das Land wiederum von einer höheren adligen Instanz (und als höchster der König) „geliehen“ (daher der Begriff „Lehen“) bekommen, er war zum „ Vasallen“ z.B. des Königs geworden, bekam also Land und Auskommen (mit den dazu gehörenden Bauern), dafür schwor der Grundherr dem König Treue und Gefolgschaft, vor allem auch im Krieg – auf diesem System basierte das gesamte mittelalterliche Herrschaftsgefüge in allen westeuropäischen Ländern, das feudale (von lat. feudum = Lehen) Herrschaftssystem, welches erst in der Frühen Neuzeit aufgebrochen wurde. Das mündete dann in der Befreiung der Bauern (siehe dazu für Wilstedt den Beitrag von Georg Schnackenberg, Hermann Burfeind und Herrmann Poppe) im 19.Jahrhundert. Dass die Grundherren oft Vertreter der Kirche waren, darf übrigens nicht verwundern, denn Kirchenherren waren im Mittelalter durchaus auch Kriegsherren, den Widerspruch, den wir heute in diesem Zusammenhang sehen, kannte man im Mittelalter noch nicht. Und zudem waren kirchliche Vasallen den Herrschern durchaus lieb, denn sie hatten einen wichtigen Vorteil: Sie bekamen keine Kinder (jedenfalls keine ehelichen!)! Auf diese Weise konnte ein Lehen immer wieder neu vergeben und Gefolgschaft immer wieder neu gesichert werden. Die weltlichen Herren neigten aber dazu, das Lehen irgendwann eher als ihren Familienbesitz zu betrachten, auch daher unterlagen weite Teile des mittelalterlichen „Deutschlands“ (was es als Staat im heutigen Sinne natürlich noch nicht gab) geistlichen „Fürsten“. Und die geistlichen Grundherren gingen mit ihren abhängigen Bauern nicht zwangsläufig besser um als die weltlichen Herren, sehr viele Quellen belegen dies. Begründet liegt dies unter anderem im damaligen, auch von der Kirche propagierten Menschenbild, welches die Ständeordnung und damit die Ungleichheit der Menschen festschrieb.

Warum aber gerieten die Bauern in diese aus heutiger Sicht verhängnisvolle Abhängigkeit? Wenn man bedenkt, dass die abhängigen Bauern erhebliche Abgaben und Frondienste zu leisten hatte (was noch verhasster war, weil diese Arbeit für den Grundherren – meist an drei Tagen in der Woche - von der Arbeit auf den „eigenen“ Feldern abhielt) und auch viele persönliche Rechte verloren (z.B. durften Unfreie ihr Land/Dorf nicht verlassen, durften ohne Erlaubnis nicht heiraten etc.), dann fragt man sich, warum die Bauern ihre Freiheit aufgaben. Die Gründe dafür sind sehr vielfältig: Im frühen Mittelalter (unter Karl dem Großen gab es noch viele freie Bauern) begaben sich viele freie Bauern in Abhängigkeit, weil sie dadurch befreit waren vom gefährlichen und überaus kostspieligen Heeresdienst, den sie oft Jahr für Jahr zu leisten hatten. Der Grundherr verrichtete fortan für sie den Kriegsdienst, sie schuldeten ihm dafür dann Abgaben (meist landwirtschaftliche Erzeugnisse, erst viel später Geld) und Dienste. Und ein Leben unter einem gerechten Grundherrn musste nicht zwangsläufig schlechter sei, als wenn man ein freier, aber vom den Kriegslasten bedrückter Bauer blieb. Später, und auch dafür gibt es viele schriftliche Belege, drängten aber auch viele Grundherren die Bauern gewaltsam in die Abhängigkeit, die Möglichkeiten in einem System, welches die prinzipielle Gleichheit vor dem Recht wie in unserem modernen Rechtsstaat nicht kannte, in welchem eine Gruppe von Menschen der anderen angeblich gottgewollt untergeben war (für den Adel war ein Bauer kein gleichberechtigter Mensch, eher ein „Besitz“, eine Sache), die Möglichkeiten also, Bauern zu drangsalieren und sie so in die Abhängigkeit zu drängen, waren vielfältig.

Auswege aus der Unfreiheit eröffneten sich aber auch im Verlaufe des Mittelalters: Die entstehenden Städte boten die Möglichkeit, aus der Herrschaft des Grundherren zu entfliehen. Lebte man einen Jahr und einen Tag in einer freien Stadt, dann wurde man ein freier Mensch, daher der Spruch „Stadtluft macht frei“. Und später lockten viele Adlige deutsche Siedler in das dünn besiedelte, oft noch ungenutzte Land östliche der Elbe bis hin nach Ostpreußen oder sogar bis ins heutige Rumänien: Die mittelalterliche Ostsiedlung begann. Und einige dieser Menschen bzw. deren Nachkommen, die im Osten ein besseres Leben suchten, leben heute wieder in Wilstedt, vertrieben aus ihrer Heimat nach dem von Hitler entfachten Wahnsinn des Zweiten Weltkrieges. Die oft schwierige und bisweilen von Vorurteilen behinderte Integration dieser Millionen Vertriebener ist auch eine Leistung der jungen Bundesrepublik und ihrer Menschen, die viel zu selten betont wird. Eine Leistung, die man auch in Wilstedt beobachten kann.

Literatur: Rösener, W.: Bauern im Mittelalter. München 1991.

(Anmerkung des Wilstedt1150.de-Lektorenteams: Martin Schnackenberg wohnt mit seiner Familie in Kairo und hält mit dem „Lektorenteam“ über das Internet Kontakt.)

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